„Komm jetzt endlich…“ – wenn Mama & Papa mit mir sprechen

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Zum Tag der gewaltfreien Erziehung

Morgens vor der Kita

Ich werde um 7 Uhr geweckt. Juhu, ich darf noch 10 min in meinem Zimmer spielen. Ich wende mich meinen Lieblingsbausteinen zu und beginne sie zu stapeln. Ich bin vollkommen vertieft darin. Mir ist, als hätte ich gerade irgendwo weit weg meinen Namen gehört. Ich staple weiter konzentriert an meinen Turm. Der gelbe Stein möchte leider nicht oben bleiben und rummmms – fällt der ganze Stapel zusammen.

Ich höre die Stimme jetzt deutlicher … lauter. Sie ruft, dass wir frühstücken müssen. Eigentlich möchte ich aber den Turm nur einmal noch fertig aufbauen. Ein lautes „Komm jetzt endlich – ich habe 10 min gesagt“ erreicht mein Kinderzimmer. Was genau bedeuten 10 Minuten? Dann geht die Tür auf und energisch werde ich von meinem Turm weggezogen und auf den Arm genommen. Mein Turm ist noch nicht fertig! Doch dafür hat gerade niemand ein Ohr. In meinem Kopf, Bauch und Herzen wird es mir mulmig und ich muss jetzt einfach weinen.

Soeben war ich der größte Baustein – Ingenieur aller Zeiten! Ich habe dich wohl nicht gehört. Du sagst zu mir, ich hätte lange genug Zeit zum Spielen gehabt und es reicht jetzt.

Jetzt frühstücke ich. Du musst schon die ersten Nachrichten auf deinem Telefon beantworten. Ich bin immer noch sehr traurig und mag eigentlich gar nichts essen. Ich schau in mein Schüsselchen, beginne die Müsliflocken auf dem Tisch zu sortieren. Ein schönes Muster entsteht da. Du tippst weiter auf deinem Telefon herum. Wenn ich mit dem Milchfinger entlang wische, entsteht ein schönes Muster. Wirklich schön, etwas Milch-Müsli-Gemisch tropft nach unten. Ich erschrecke fürchterlich, denn du stehst direkt vor mir. Dein Gesicht erschreckt mich. Du sagst mir, dass ich besser aufpassen und nicht immer Dreck verursachen soll am und vor allem unter dem Tisch.

Nach dem Essen putzt du mir die Zähne. Ich merke, dass du immer noch böse auf mich bist. Deswegen traue ich mich nicht, dir zu sagen, dass ich das selbst machen möchte. Jetzt bin ich auch traurig. Danach werde ich rasch von dir angezogen. Nicht den Pulli, denke ich mir – der geht so schwer über den Kopf. Ich signalisiere dir, dass ich genau diesen nicht möchte. Doch du hörst mir nicht zu. In meinem Bauch und Herzlein beginnt es wieder seltsam mulmig zu werden – Tränen steigen in meine Augen.

Aber du sagst: Was hast du denn jetzt schon wieder? Schon wieder? Ich werde noch trauriger. Aber du sagst, ich soll bloß nicht nochmal damit anfangen, denn wir müssen gleich los, damit wir nicht zu spät in die Kita kommen. Jetzt schon? Schade, wir haben noch nicht einmal wirklich gekuschelt oder miteinander gesprochen. Ich bin traurig und mein Bauch tut weh.

An der Garderobe liegen Jacke, Mütze, Schal und Schuhe. Das alles muss jetzt wirklich schnell angezogen werden, teilst du mir mit. Du wirkst noch immer sehr hektisch. Ich schaue aus dem Fenster – was für ein schöner Vogel. Schau mal dort den schönen Vogel an! Ich will dir zeigen, was ich entdeckt habe. Aber du ziehst gerade deine Jacke an und rufst mir zu, dass ich endlich Ruhe geben soll und noch die Mütze aufsetzen muss. Die Mütze ist aber gerade nicht wichtig für mich. Hier ist es warm und der Vogel ist zu interessant, um wegzuschauen. Er hat etwas Heu im Schnabel. Was er wohl damit macht? Du bist fertig angezogen und kommst zu mir.

Oh nein! Den Gesichtsausdruck kenne ich – er verheißt nichts Gutes. „Mir reicht es jetzt“ sagst du und zack – lande ich wieder auf deinem Arm. Ich fühle mich eingezwängt und kann mich nicht bewegen. Dabei will ich doch wissen, was der Vogel mit dem Heu macht? Du stopfst mich in meinen Kindersitz. Ich bin traurig.

Ab in die Kita. Am Zaun hängt ein großes buntes Plakat. Ich kann es nicht lesen. Aber die anderen Mütter davor sprechen von gewaltfreier Erziehung.

 

 „Man kann in ein Kind nichts hineinprügeln,
aber vieles herausstreicheln.“

Astrid Lindgren

 

Liebe Mamas und Papas,

ihr nehmt meine Hand wenn ich ängstlich bin, ermutigt mich, wenn ich mich fürchte, nehmt mich in die Arme, wenn meine Gefühle durcheinander sind. Ihr huschelt und kuschelt mich, lest mir die schönsten Geschichten und singt mir die liebsten Lieder vor. Wir machen Späße, ziehen Grimassen, tanzen durch die Wohnung bis wir umfallen. Wir lachen über lustige Fantasietiere oder wenn mein Eis nach unten kleckst und Ameisen es aufschlecken.

Aber manchmal – manchmal schafft ihr es eben nicht. Und ich weiß, manchmal sind die Zeiten stürmisch, meine Gefühle zu stark, eure Termine zu eng gestrickt, noch zu viel zu tun. Manchmal fahrt ihr mich grundlos an, werdet zu laut oder grob, manchmal wisst ihr sicherlich auch einfach nicht weiter.

Aber IHR seid mein Zuhause und ich möchte euch sagen, dass ich euch liebe. Ihr könnt mir auch Strukturen und Grenzen aufzeigen, bitte schau dabei emphatisch auf meine Bedürfnisse.

 

Plädoyer für mehr Nachsicht, Weitsicht und Selbstreflexion

Liebe Eltern,

gehen wir mit unseren Kindern wirklich immer fair und gewaltfrei um? Gewalt ist nicht nur der Klaps auf die Finger oder den Po. Auch das laute Wort, die Ungeduld, Drohungen („wenn du jetzt nicht gleich…, dann…“) sind Gewalt, die Kindern psychischen Schaden zufügen können.

Wann sind wir besonders empfindlich, wann besonders leicht reizbar? Wann ist unser Geduldsfaden das letzte Mal gerissen? Wann haben wir unseren Kindern das letzte Mal etwas gesagt, zu laut – zu doll – zu heftig? Und haben wir es nicht beinahe sofort wieder bereut? Und hat es nicht letztens auch in der Hand gekribbelt, als das Kind einen neuen Wutausbruch hatte und alle Leute dabei zusahen?

Wir wollten euch mit unserer kleinen Geschichte am Anfang die kindliche Sichtweise aufzeigen. Denn unsere Kinder müssen viel von unserem täglichen Stress abfangen. Vielleicht ist es ein guter Anfang, sich häufiger in die Perspektive des Kindes zu begeben und dessen Bedürfnisse und Handlungen genauer zu ergründen. Warum reduzieren wir nicht unsere tägliche  To-do-Liste und entschleunigen den Alltag etwas?

Wenn ihr merkt, dass das Schimpfen oder Lautstärke zu oft den familiären Alltag beherrscht, dann ist es Zeit, zu handeln. Reflektiert, wie und wann kommt es dazu. Welche Auslöser erkennt ihr bei euch? Versucht gemeinsam zu überlegen, was ihr tun könnt. Vielleicht gebt ihr auch einmal einer Familienkonferenz eine Chance? Wie auch immer, es gilt aus diesem Teufelskreis schnell auszubrechen.

Wir Eltern sind die, die Orientierung bieten sollten, als gute Vorbilder vorangehen, Struktur und Grenzen aufzeigen und so liebevoll das Heranwachsen begleiten. Achtsamkeit und Respekt sich selbst und anderen gegenüber sind dabei unerlässlich. Und mal ehrlich, wir würden doch auch nicht unsere Freundin, den Chef oder die Verkäuferin laut anbrüllen, nur weil etwas schiefgelaufen ist oder die Zeit drängt?  Warum reagieren wir also bei unseren Kindern so?